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Wirtschaft Verdi, GDL, Bauern

„Bürger oft die größten Verlierer“ – die Folgen des deutschen „Dauerstreiks“

Bei der Deutschen Bahn drohen neue Streiks

Ab dieser Woche müssen sich Fahrgäste wieder auf Streiks auf der Schiene einstellen. Erneute Verhandlungen zwischen der Bahn und der Lokführergewerkschaft GDL sind gescheitert. Verkehrsminister Wissing mahnt beide Seiten zu einer Einigung.

Quelle: WELT TV

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Verdi bestreikt Busse, Bahnen und Flughäfen. Bauern und Spediteure protestieren. Die Lokführer fordern seit Monaten mehr Lohn. Das ist ein Grundrecht, doch wie hart trifft es das Land wirtschaftlich? Oder steckt im Streik sogar eine Chance? Sechs Lehren.

Die Forderungen sind vielfältig: mehr Lohn, weniger Arbeitszeit, bessere Rahmenbedingungen. Nicht nur für Lokführer heißt das derzeit oft: Streik. Gerade rief die Gewerkschaft Verdi zur nächsten Aktion auf. Dieses Mal bleiben Busse und Bahnen im Nahverkehr stehen.

Zuvor protestierten schon Flugpersonal, Lokführer, die Landwirte und Spediteure. Teils mit großen Einschränkungen für die Öffentlichkeit – und bisher fast immer ohne nennenswerte Fortschritte bei den Tarifgesprächen.

Die vielen Aktionen der Gewerkschaften und Interessenverbände werfen für Deutschland auch ökonomische Fragen auf. Kosten, Gehalt, Konsum – Experten geben Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie hoch sind die Kosten für einen Streik?

Genau beziffern lassen sich die Kosten nicht, denn die genauen Folgen sind auch für Experten schwer zu überblicken. Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor für Makroökonomie und Konjunkturforschung bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, schätzt die Kosten für den Steuerzahler und für Betriebe als gering ein.

„Die Erfahrung aus der Vergangenheit ist, dass begrenzte Streiks in Deutschland keine gesamtwirtschaftlichen Folgen haben“, sagt der Ökonom. Betriebe würden die ausgefallene Produktion meist in Sonderschichten nachholen, wenn die Arbeit wieder wie gewohnt läuft. „Bei Dienstleistungen springen oft andere Unternehmen ein“, sagt Dullien: „Wenn die Lokführer streiken, wird mehr geflogen.“

Gerade was die Folgen längerer Streiks der Lokführergewerkschaft GDL für die Gesamtwirtschaft betrifft, schätzt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) das anders ein: Sollten Streiks drei Tage oder länger dauern, zeigten „Erfahrungswerte früherer GDL-Streiks, dass die täglichen Schäden bis zu 100 Millionen Euro betragen können“, heißt es in einem IW-Bericht aus dem Jahr 2021.

Die Deutsche Bahn bezifferte die Schäden für das Unternehmen im aktuellen Tarifkonflikt pro Streiktag auf 25 Millionen Euro. Und: Auch die Gewerkschaften haben Kosten. Sie zahlen streikenden Mitarbeitern etwa 70 Euro Verpflegungspauschale pro Tag. Diese sind jedoch zu vernachlässigen. Gedeckt werden sie über die Mitgliedsbeiträge.

Ist der Protest in Wahrheit gut für die Wirtschaft?

Diese Ansicht vertritt etwa die Gewerkschaft IG Metall, die Tarifverhandlungen grundsätzlich als „wichtigen Beitrag für verlässliche Zukunftsperspektiven für Betriebe und Beschäftigte und die Wirtschaft“ sieht.

Fakt ist aber auch: In vielen Fällen gibt es seit Monaten keine Abschlüsse. Im Fall der GDL brach die Gewerkschaft die Gespräche ergebnislos ab, im aktuellen Verdi-Streik lehnten die Berliner Verkehrsbetriebe neue Tarifverhandlungen ab. Gestreikt wird weiterhin.

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Michael Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht die Entwicklung deshalb skeptisch: „Allzu oft sind Bürgerinnen und Bürger die größten Verlierer. Ein Streik ist letztlich das Eingeständnis, dass Sozialpartnerschaften nicht funktionieren.“

Immerhin sieht der Experte keine Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, die zu einer neuerlichen Erhöhung der Inflation führen könnte. „Die Gefahr ist gering. Anders als in den 1970er-Jahren sind die Löhne heute nicht mehr an die Inflation gekoppelt.“

Marc Tenbieg vom Deutschen Mittelstands-Bund (DMB) verweist auf bereits bestehende Probleme des Standorts Deutschland: „Es wird vergessen, dass sich die deutsche Wirtschaft derzeit in keiner guten Gesamtverfassung befindet.“ Die hohen Forderungen der Gewerkschaften setzten Arbeitgeber daher unverhältnismäßig unter Druck und könnten sogar zu einem Stellenabbau und führen.

Wird Deutschland jetzt zum Streikland?

Im weltweiten Vergleich der Streik-Häufigkeit liegen die Deutschen traditionell eher im Mittelfeld. Im Zehn-Jahres-Durchschnitt fielen von 2012 bis 2021 in Deutschland 18 Arbeitstage pro 1000 Arbeitnehmer durch Streiks aus. Zum Vergleich: in der Statistik belegt Belgien mit 96 Ausfalltagen den Spitzenplatz, vor Deutschland liegen auch Dänemark (53), Spanien (48), Norwegen (42) und die Niederlande (22).

Noch ist Deutschland also kein Streikland. Die Gewerkschaft Verdi sagt WELT allerdings, dass eine „weitere Ausweitung der Streiks“ denkbar wäre, sollte es in den Verhandlungen „keine Fortschritte“ geben.

DIW-Ökonom Fratzscher schätzt den Einflussbereich der Gewerkschaften im Vergleich zu vergangenen Jahren als eher gering ein. „Nur gut die Hälfte aller Arbeitsplätze in Deutschland ist über Tarifverträge abgedeckt“, so der Experte. Dennoch könnten Streiks in Deutschland aus seiner Sicht zunehmen. „Wir werden häufiger Streiks erleben, und auch die Löhne werden deutlich steigen, um die Inflation aufzuholen.“

Sollte auch ich jetzt mein Gehalt verhandeln?

„Der beste Zeitpunkt, sein Gehalt zu verhandeln, ist, wenn es gute Gründe dafür gibt. Der Streik anderer ist kein guter Grund“, sagt Experte Jochen Mai von der Jobratgeber-Plattform Karrierebibel. Wirksamere Argumente für mehr Geld seien bessere Leistungen, mehr Verantwortung oder ein höherer Marktwert nach Weiterbildungen.

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Dass die Gewerkschaften damit argumentieren, Berufsfelder attraktiver machen zu wollen, hält Mai gleichzeitig für „extrem clever“. „Nach wie vor geht es aber um das eigene Gehalt und die eigenen Arbeitsbedingungen der Streikenden.“ Lernen lasse sich laut Mai vom Auftreten der Gewerkschaften: „Selbstbewusstsein zahlt sich in Verhandlungen immer aus. Aber nur in Verbindung mit Substanz.“

Wie hat der Streik den Konsum verändert?

Ein Einfluss lässt sich kaum belegen, auch wenn Branchenverbände ihn nahelegen. So schreibt die Assoziation ökologischer Lebensmittelherstellerinnen und -hersteller (AÖL) auf WELT-Anfrage: „Wenn Menschen auf die Straße gehen, schafft das Bewusstsein in der Bevölkerung“. Das treffe auch auf die Bauernproteste zu: „Menschen haben wieder Lust auf gute Lebensmittel, dazu haben die Proteste auf jeden Fall beigetragen.“

Jedoch lässt sich das Absatz-Plus schon seit 2019 beobachten. Der Absatz an Bio-Lebensmitteln stieg in den vergangenen vier Jahren laut Bioland um 47 Prozent. Auch ein Zusammenhang zwischen Bahnstreiks und der Nutzung anderer Verkehrsmittel lässt sich nur vermuten.

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Laut einer Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sagten 32 Prozent der 413 Teilnehmer aus, wegen der Bahnstreiks Anfang des Jahres auf andere Verkehrsmittel umzusteigen. Der Automobilclub ADAC sieht vor allem Pkw im Vorteil: „Wenn keine Bahn fährt, gibt es oftmals keine Alternative zum Auto“, so ein Sprecher. In der Umfrage gaben außerdem 32 Prozent an, wegen Streiks auf Freizeittermine zu verzichten, 24 Prozent sagten dienstliche Termine ab.

Was bedeuten die Streiks für „Made in Germany“?

Das Streikrecht ist im Grundgesetz festgehalten und somit seit langem Teil der deutschen Arbeitswelt. Dennoch sehen Branchenverbände wie der DMB in der ohnehin angespannten Wirtschaftslage Deutschlands die Gefahr weiterer Beeinträchtigungen.

„Bislang ist kein größerer Vertrauensverlust in deutsche Unternehmen zu verzeichnen“, sagt Marc Tenbieg, geschäftsführender DMB-Vorstand. Weitreichende Forderungen auf Arbeitnehmerseite könnten das nach seinen Einschätzungen jedoch ändern. „Die aktuelle Welle stellt eine ungewöhnliche Herausforderung dar“, sagt Tenbieg: „Sie beschädigt in letzter Konsequenz das Renommee des Standorts Deutschland und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.“

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