Deutschland muss nach Ansicht des Europarats bei der Bekämpfung von Armut, Wohnungsnot und Ausgrenzung behinderter Menschen deutlich mehr tun. Das hohe Maß an Armut und sozialer Benachteiligung in Deutschland stehe in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes, heißt es in einem Bericht des Europarats, der am Dienstag in Straßburg veröffentlicht wird.
Auch wenn Berlin begrüßenswerte Schritte für ein zugängliches Sozialsystem unternommen habe, brauche es weitere Anstrengungen gegen die wachsende Ungleichheit. Denn soziale Rechte würden in Deutschland nicht immer als rechtsverbindliche Verpflichtung betrachtet, sondern seien abhängig von den Ressourcen.
„In diesem Zusammenhang muss der Bekämpfung der hohen Armutsquoten, insbesondere bei Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden“, wird die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, nach ihrem Besuch in Deutschland Ende vergangenen Jahres in einer Pressemitteilung zitiert.
Es brauche entschlossene Schritte, um den Kreislauf der Kinderarmut zu durchbrechen, heißt es in dem Bericht. Auch müssten die Kinderrechte gestärkt und etwa mit einer zentralen Behörde koordiniert werden, weil sonst die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen bei politischen Entscheidungen übersehen würden – wie beispielsweise während der Corona-Pandemie, fordert der Europarat. Außerdem müsse gegen die hohe Armutsquote bei Senioren vorgegangen werden.
Menschenrechtskommissarin besorgt über zunehmende Obdachlosigkeit
Bei den Rechten behinderter Menschen wurden den Angaben zufolge insgesamt nur begrenzte Fortschritte erzielt: Inklusion und Teilhabe seien in vielen Bereichen nicht möglich. Der Europarat begründet das mit mangelndem politischem Engagement und zwar gut finanzierten, aber ausgrenzenden Strukturen wie Behindertenwerkstätten, Förderschulen oder Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen. Damit könnte ein unabhängiges Leben nur schwer verwirklicht werden. Stattdessen brauche es integrative Strukturen.
Beim fehlenden Wohnraum begrüßte der Europarat zwar das Engagement der Regierung, die Krise zu bekämpfen. Die Menschenrechtskommissarin zeigte sich allerdings besorgt über die zunehmende Obdachlosigkeit in Deutschland. Das Recht auf Wohnen als Menschenrecht für alle werde leider nur begrenzt anerkannt. Deutschland müsse alle zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, einschließlich Eingriffen in den Wohnungsmarkt und Änderungen des Mietrechts.
Europarat sieht wachsenden Rassismus
Auch müsse das Gleichstellungsgesetz deutlich verbessert werden, um die Diskriminierung in verschiedenen Bereichen einzuschränken. Besondere Aufmerksamkeit sollte demnach dem wachsenden Rassismus gewidmet werden, der das Potenzial habe, den sozialen Zusammenhalt zu untergraben und demokratische Institutionen zu destabilisieren, heißt es in dem Bericht.
Aus Berlin hieß es, die Bundesregierung teile „die Sorgen der Kommissarin hinsichtlich der steigenden Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland“. Von deutscher Seite wurde darauf verwiesen, dass erstmals beschlossen worden sei, einen Nationalen Aktionsplan zur Überwindung von Wohnungslosigkeit zu verabschieden.
Zwar sei der Bestand an Sozialwohnungen in Deutschland von rund drei Millionen Wohnungen im Jahr 1990 auf derzeit etwa eine Million Sozialmietwohnungen „abgeschmolzen“. Aktuell sei jedoch vorgesehen, dass der Bund den Ländern für den sozialen Wohnungsbau im Zeitraum 2022 bis 2027 insgesamt 18,15 Milliarden Euro Bundesmittel zur Verfügung stellt.
Der Europarat wurde 1949 zum Schutz von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat in Europa gegründet. Er ist von der Europäischen Union unabhängig. Ihm gehören 46 europäische Staaten an. Die Experten besuchten Deutschland im November vergangenen Jahres.