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  4. Café am Kriminalgericht Moabit: Staatsanwälte treffen auf Clan-Bosse

Kriminalität Kriminalgericht Moabit

Wo sich Clan-Bosse und Staatsanwälte beim Kaffee treffen

Volontärin „Investigation und Reportage“ / Axel Springer Academy
Auf der kleinen Terrasse des Cafés verbringen viele Juristen ihre Mittagspause und beobachten die Dramen, die sich vor dem Gericht abspielen Auf der kleinen Terrasse des Cafés verbringen viele Juristen ihre Mittagspause und beobachten die Dramen, die sich vor dem Gericht abspielen
Auf der kleinen Terrasse des Cafés verbringen viele Juristen ihre Mittagspause und beobachten die Dramen, die sich vor dem Gericht abspielen
Quelle: Vanessa Nischik
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Auf der einen Straßenseite verurteilen Richter die notorischen Verbrecher der Hauptstadt. Auf der anderen sitzen Kriminelle und Ankläger regelmäßig entspannt nebeneinander, trinken Cappuccino oder essen Würstchen mit Kartoffelsalat. Ein Besuch im vielleicht ungewöhnlichsten Café des Landes. 

Die blutige Rache von Kadir P. dauerte nur 25 Sekunden und war mit sechs gezielten Schüssen erledigt. Am späten Abend des 10. Januars 2014 stürmten dreizehn Männer in das Hinterzimmer des Wettcafés „Expekt“ in Berlin-Reinickendorf. Alle dunkel gekleidet, teils vermummt, jede Menge Muskelmasse. Sie sind im Auftrag ihres „Paten“ gekommen, dem damaligen Hells-Angels-Chef Kadir P. Der wollte Vergeltung und noch mehr Macht. Seine Brüder sollten den 26-jährigen Tahir Özbek töten, der wie so oft auch an diesem Freitagabend im Wettbüro Karten spielte. Es fielen Schüsse. Özbek erlag noch vor Ort seinen Verletzungen.

Der „Wettbüro Mord“ sorgte bundesweit für Schlagzeilen. Am 4. November 2014 begann dann am Kriminalgericht in Berlin-Moabit der bislang größte Rocker-Prozess in Deutschland. Rund fünf Jahre dauerte das Verfahren gegen sieben Angeklagte und endete mit einer Verurteilung wegen Mordes, für Kadir P. wegen Anstiftung, zu lebenslangen Freiheitsstrafen.

Der „California Coffee Shop“ liegt gleich gegenüber dem Kriminalgericht Moabit
Der „California Coffee Shop“ liegt gleich gegenüber dem Kriminalgericht Moabit
Quelle: Vanessa Nischik

An die strengen Sicherheitsvorkehrungen und das große Polizei-Aufgebot erinnert sich Stefanie Trohl noch sehr gut. Zu jener Zeit hat sie gerade das kleine Café übernommen, das gleich gegenüber dem Strafgericht liegt. „Das war der erste Prozess, den ich hier mitbekommen habe. Da war ganz schön was los, wie so oft bei Clan- oder Rocker-Prozessen in den letzten Jahren“, sagt Trohl. Sie streicht vorsichtig das Kaffeepulver in einem Siebträger glatt und spannt ihn in die Kaffeemaschine ein. Seit fast zehn Jahren führt sie nun schon den „California Coffee Shop” zusammen mit einer Mitarbeiterin. Vor der Corona-Pandemie habe sie noch vier Angestellte gehabt, aber die Zeit habe eben Spuren hinterlassen, wie bei vielen Gastronomen. Für sie ist das Café eine zweite Familie. Sie mag die Welten und Biografien, die hier aufeinanderprallen: Richter und Staatsanwälte treffen auf Anwälte und Angeklagte.

Am ersten Prozesstag des „Wettbüro Mordes“ attackierte ein Hells-Angels-Rocker ein Kamerateam bei der Einlasskontrolle und wurde direkt vor ihrem Café festgenommen. Die Polizisten drückten ihn gegen ihre Fensterscheibe. „Langweilig war es hier noch nie“, sagt die 53-Jährige und lacht dabei. Bevor sie das Café übernommen hat, arbeitete sie bei einer Bank, sehnte sich nach über zwanzig Jahren nach neuen Herausforderungen, mehr Action. Sie sei als Kundenberaterin nicht mehr glücklich gewesen, habe nicht mehr hinter dem gestanden, was sie den Leuten verkaufen sollte. Aufgewachsen in der ehemaligen DDR war sie schon als junge Frau in der Gastronomie tätig. Es sei ihre Leidenschaft.

Ein Polizist sichert zum Prozessbeginn des „Wettbüro-Mordes“ den Besuchereingang am Kriminalgericht
Ein Polizist sichert zum Prozessbeginn des „Wettbüro-Mordes“ den Besuchereingang am Kriminalgericht
Quelle: picture alliance/dpa/Friedrich Bungert
Mordprozess gegen Hells-Angels-Rocker
Ein mutmaßlicher Zeuge wird während des Hells-Angel-Prozesses nahe des Cafés festgenommen, nachdem er ein Kamerateam attackierte
Quelle: picture alliance/dpa/Friedrich Bungert

Schon in den ersten Tagen im „California Coffee Shop“ wurde ihr bewusst, dass Drama vor dem größten Strafgericht Europas vorprogrammiert ist. Trohl hat sämtliche aufsehenerregende Prozesse und den Trubel der letzten Jahre, teils auch Demonstrationen und Polizeieinsätze drum herum, miterlebt: Vom Wettbüro-Prozess, über den Tiergartenmord, den Raub der Goldmünze aus dem Bode-Museum und dem Überfall auf das KaDeWe.

In ihrem Café vertreiben sich viele Angehörige von Angeklagten nervös bei Tee oder Kaffee die Zeit. Erst kürzlich sei eine Frau sogar ohnmächtig geworden, weil sie so aufgeregt gewesen sei – kurz vor dem Urteil gegen ihren Sohn.

Trohl hat ihre kurzen blonden Haare zum Zopf zusammengebunden, trägt ein dunkelblaues Polo-Shirt und Jeans. Sie hat strahlend blaue Augen, ist braun gebrannt, sportliche Figur. Immer ein Lächeln auf den Lippen, immer ein offenes Ohr. „Viele Angeklagte, die herkommen, erzählen mir gleich, dass sie natürlich unschuldig sind“, so Trohl. Andere hingegen würden beteuern, dass sie nur Zeuge seien.

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Quelle: picture alliance/dpa/Christoph Soeder
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An diesem Dienstagmittag im August ist es ruhig im Café. Vor der Tür liegt der Geruch von frischem Kaffee in der Luft, der sich mit dem Zigarettenrauch zweier Anwälte mischt, die an einem der kleinen Tische auf der Terrasse sitzen. Sie tragen gutsitzende blaue Anzüge, dazu italienische Loafer. Die Männer, Ende 30, genießen die wenigen Sonnenstrahlen an diesem Tag, bevor sie gleich zur nächsten Verhandlung müssen. Der eine scheint dem anderen noch etwas zu schulden, scherzt, er dürfe alles bestellen, selbst Trüffel. Sie bleiben bei Espresso.

Im „California Coffee Shop“ gibt es Panini, Crêpes, Dattel-Bällchen, aber auch Würstchen mit Kartoffelsalat für 4,90 Euro. Die meisten kommen jedoch wegen des Kaffees hierher. Er sei der beste in der Gegend, lobt ein Oberstaatsanwalt. Er verbringe häufig seine Mittagspausen hier. Trohl kennt ihn, so wie viele seiner Kollegen. Der Jurist findet es spannend, wer in dem kleinen Café entspannt nebeneinandersitzt. Das alles wäre drüben, auf der anderen Straßenseite, im Gerichtssaal unvorstellbar.

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Der Staatsanwalt trifft hier auch diejenigen, die er kurz vorher angeklagt hat. Es sei schon vorgekommen, dass er noch wenige Minuten zuvor ein flammendes Plädoyer gehalten, und wenig später neben dem Verurteilten zu Mittag gegessen habe. „Die Stimmung im Gerichtssaal ist eben eine ganz andere, so muss es auch sein. Aber warum sollte ich hier nicht anständig den Leuten guten Appetit wünschen?“, so der Jurist.

Manche der Angeklagten nerven ihn indes, etwa einige Clan-Bosse. Trohls Laden wird in vielen Dokus vor allem als das Stammcafé eines berüchtigten Berliner Clan-Chefs betitelt, was wohl vielmehr daran liegen dürfte, dass er auch regelmäßig zu Gast vor Gericht ist. Die Gastronomin hat schon häufig ihre Kaffeebecher in Dokus oder auf Fotos in der Presse gesehen. „Wie die sich hier manchmal aufführen, dieses Macho-Gehabe, wenn sie einfach Kaffee bestellen!“, regt sich der Oberstaatsanwalt auf. Trohl widerspricht ihm. Zu ihr und ihrer Mitarbeiterin seien die Clan-Jungs immer zuvorkommend und höflich. Der Staatsanwalt zieht die Augenbrauen hoch, schüttelt den Kopf. Dann setzt er sich raus, nippt an seinem Latte Macchiato, schlägt die Zeitung auf und zieht an einer Zigarette.

Auch bekannte Clan-Bosse wie Arafat A.-C., sind Stammkunden bei Café-Besitzerin Trohl. Sie habe ihre Kaffeebecher bereits auf vielen Fotos in der Presse entdeckt
Auch bekannte Clan-Bosse wie Arafat A.-C., sind Stammkunden bei Café-Besitzerin Trohl. Sie habe ihre Kaffeebecher bereits auf vielen Fotos in der Presse entdeckt
Quelle: picture alliance/dpa/Christophe Gateau

Zwei Tische weiter sitzt ein aufgebrachter Mann, der soeben mit seiner Frau aus dem Gericht gekommen ist. „Wenn jemand mein Urteil liest, der denkt, ich bin durch und durch kriminell, man! Was stimmt mit denen nicht?“ Trotz der Aufregung bestellt auch er erst einmal Kaffee.

Trohl verurteilt niemanden. Vielen nimmt sie mit ihrer entspannten Art wohl auch etwas Nervosität. Ganz spurlos gehen die Schicksale und Dramen, die sich hier abspielen, aber nicht an ihr vorbei. Manchmal frage sie sich, was Menschen in solche kriminellen Strukturen treiben würde und wem sie tatsächlich einen Cappuccino serviere. Meist lese sie dann erst in der Zeitung am nächsten Morgen, was der „unschuldige“ Angeklagte tatsächlich verbrochen habe.

Es gab auch skurrile Situationen, zumindest im Nachhinein kann sie über einige schmunzeln. Eine Angeklagte habe ihren Sohn, etwa 8 Jahre alt, bei ihr im Laden gelassen, und gesagt, sie sei gleich wieder da. Er mache Hausaufgaben. Stunden später sei sie immer noch nicht zurückgekommen. „Irgendwann habe ich den Laden geschlossen und bin mit dem Jungen rüber ins Gericht, hab die Justizbeamten gefragt, ob seine Mutter noch immer in einer Verhandlung sei“, erzählt Trohl. Dann sei die Frau plötzlich die große Treppe heruntergekommen. Es habe doch etwas länger gedauert.

Genau so sei sie bereits Hundesitterin gewesen und regelmäßig würde ihr Café als Lager für schwere Aktenkoffer benutzt. Oder für Gegenstände, die Angeklagte nicht mit ins Gerichtsgebäude nehmen wollen würden. Einmal habe ein Mann ein Messer einfach so auf einem der Tische liegengelassen, kein kleines. Nach seiner Verhandlung sei er wiedergekommen, habe sich bei ihr bedankt und erklärt, er dürfe damit ja nicht ins Gericht.

Einer ihrer Stammgäste ist ihr besonders ans Herz gewachsen: Uwe Schadt. „Seit er hier ist, sind wir wohl auch eine Anwaltskanzlei“, lacht Trohl. Für die 53-Jährige gehört er schon längst zum Inventar. Der Strafverteidiger kommt täglich her. Er trägt keinen Anzug, sitzt mit einem lockeren Shirt und Jeans vor seinem Laptop gleich am erhöhten Tisch an der Fensterscheibe. Von hier aus habe er den besten Blick auf den Gerichtseingang. Seinen Platz hat er mit einem Stoffbeutel markiert, der hier immer liege. Er ist mit seinem Namen bestickt. Wenn er reinkomme und ein Staatsanwalt würde etwa auf seinem Platz sitzen, würden die meistens schnell aufstehen. Drüben bei Gericht sei das nicht so, lacht Schadt.

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Seine Kanzlei liegt im Prenzlauer Berg, aber als Strafverteidiger könne er von überall aus arbeiten. Er brauche immer Leben um sich herum, statt ein schickes Kanzleibüro. Am liebsten sitze er aber auf seinem Stammplatz in Frau Trohls Café. Hier könne er sich am besten konzentrieren, hin und wieder mit Kollegen einen Plausch halten und der Kaffee sei auch gut. Außerdem sei es praktisch, wenn der Haftrichter gegenüber einen Pflichtverteidiger suche – dann sei er gleich zur Stelle. An Mandaten würde es ihm aber nicht mangeln. Er verteidige regelmäßig Mitglieder der Rocker-Szene: die Hells-Angels.

Derweil bestellt ein anderer Oberstaatsanwalt bei Trohl frisch gepressten Orangensaft und sucht die Zeitung, die zuvor noch ein Anwalt in der Hand hatte, der an diesem Tag in einem Encrochat-Verfahren verteidigt. Auf Grundlage von jenen entschlüsselten Kryptochats wurden in den letzten Jahren allein in Deutschland Tausende Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Eigentlich will der Leiter einer Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft seine Mittagspause entspannt auf der Terrasse verbringen, doch plötzlich prasselt der Regen nur so herunter. Typisches Aprilwetter an diesem Sommertag.

Strafverteidiger Uwe Schadt hat vor dem Café sogar ein kleines Blumenbeet angelegt – ziemlich „putzig“, wie er findet
Strafverteidiger Uwe Schadt hat vor dem Café sogar ein kleines Blumenbeet angelegt – ziemlich „putzig“, wie er findet
Quelle: Vanessa Nischik

Der Mann kommt oft her, ins „Café Gangsta“, wie er es nennt. Dass auch Richter und Staatsanwälte hier ihre Pausen verbringen würden, würde dem ja nicht widersprechen, sagt er und grinst dabei. Aber betont im nächsten Satz: „Nein, nein, das ist Spaß. Auch hier gilt die Unschuldsvermutung natürlich!“ Als er nach zehn Minuten wieder zurück ins Gericht muss, hat der Regen immer noch nicht nachgelassen. Er leiht sich einen Schirm bei Trohl und beteuert, ihn auf jeden Fall wieder zurückzubringen. „Bis zur Pension möchte ich wenigstens straffrei bleiben“, scherzt der Staatsanwalt.

Er sprintet über die Straße, vorbei an dem kleinen Blumenbeet auf der Terrasse des Cafés.

„Das hab ich übrigens angelegt“, sagt Schadt. „Zuhause hab ich ja nichts davon. Ich bin ja nie da“, erklärt der Strafverteidiger, der selbst äußerlich dem Rocker-Klischee entspricht. „Dit ist doch putzig, wa?“

Für Schadt ist Trohls Café nicht nur eine zweite Kanzlei, sondern ein zweites Zuhause.

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