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Die Frage nach der Integrität der EU-Parlamentarier

Chefreporter Investigation
Gegen die griechische EU-Abgeordnete Eva Kaili ermitteln Staatsanwälte wegen Korruptionsverdachts Gegen die griechische EU-Abgeordnete Eva Kaili ermitteln Staatsanwälte wegen Korruptionsverdachts
Gegen die griechische EU-Abgeordnete Eva Kaili ermitteln Staatsanwälte wegen Korruptionsverdachts
Quelle: FREDERICK FLORIN/AFP
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Ein europaweites Recherchebündnis hat Informationen über Integritätsverstöße von EU-Parlamentariern gesammelt. Deutsche Volksvertreter sind vergleichsweise unauffällig – aber es gibt neue Indizien in einem Fall mit Bezug zu AfD-Mann Maximilian Krah. Wegen eines PR-Auftrages gab es offenbar unrechtmäßige Absprachen.

Es ist bald drei Jahre her, dass der griechische EU-Abgeordnete Ioannis Lagos zuletzt den Fuß in ein Parlamentsgebäude in Brüssel oder Straßburg gesetzt hat. Die Reise zu den beiden Tagungsorten des EU-Parlaments ist dem 51 Jahre alten Rechtsextremisten verwehrt, denn seit Mai 2021 sitzt er hinter Gittern in einer Zelle des Gefängnisses von Domokos nordwestlich von Athen. Als langjähriges Mitglied der Neonazi-Partei Goldene Morgenröte verurteilte ihn ein Gericht in Athen im Jahr 2020 zu 13 Jahren Haft – wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Doch Lagos bezieht offensichtlich weiter seine Abgeordnetendiät von gegenwärtig 10.075 Euro im Monat, er beschäftigt auf EU-Kosten zwei Assistentinnen und stellt regelmäßig schriftliche Anfragen an die EU-Kommission – zuletzt etwa zu der schwierigen Lage der griechischen Olivenanbauer.

Der Fall des hellenischen Neonazis ist extrem – aber wie steht es mit der Integrität der anderen 704 EU-Abgeordneten? Gerade jetzt mit Blick auf die EU-Wahlen Anfang Juni ist diese Frage aktuell. Ein europaweites Recherchebündnis unter Beteiligung von WELT hat – initiiert von dem niederländischen Rechercheportal „Follow the Money“ – versucht, Daten zu dieser Frage auszuwerten. Journalisten aus 22 Ländern nutzten für die „MEP Misconduct Investigation“ eine Methodologie, die zwei Sozialwissenschaftler und ein Journalist in den Niederlanden bereits vor Jahren entwickelt und seitdem immer wieder vor dortigen Wahlen angewendet hatten.

Für alle gegenwärtigen EU-Volksvertreter suchten die Journalisten jetzt nach Veröffentlichungen mit einer Reihe von Schlüsselbegriffen – von „Delikt“ über „Interessenkonflikt“ und „Korruption“ und „Skandal“ bis hin zu „Strafe“. Teil der Recherche waren auch Nachfragen bei Justizbehörden – und bei den Betroffenen. Die Idee dahinter: herausfinden, wie häufig mögliche Integritätsverstöße bekannt geworden sind. In die Liste gelangten sowohl kleinere Regelverstöße im Parlamentsbetrieb wie auch Verkehrsdelikte - bis hin zu Skandalen, die mit Suspendierungen oder Rücktritten verbunden waren und schließlich schweren Straftaten wie im Fall des Griechen Lagos.

Der griechische EU-Abgeordnete Ioannis Lagos im Juni 2022 vor Gericht in Athen
Der griechische EU-Abgeordnete Ioannis Lagos im Juni 2022 vor Gericht in Athen
Quelle: LOUISA GOULIAMAKI/AFP

Ein Ergebnis: Bei ihm und acht weiterer seiner Landsleute im EU-Parlament wurden Verstöße publik – von insgesamt 21 Parlamentariern aus Griechenland. Die prozentual meisten Hinweise auf Verstöße betrafen ungarische Volksvertreter. Aber Politiker aus Mitgliedstaaten im Süden oder dem Osten sind nicht automatisch und überdurchschnittlich auffällig. Richtig ist zugleich auch: Deutsche Abgeordnete fielen vergleichsweise selten mit Verstößen auf – sie liegen an drittletzter Stelle.

Insgesamt geht es um eine Liste von 163 Abgeordneten, an die sich Fragen richten. Bei insgesamt 23 Parlamentariern ist bekannt, dass sie – so wie Lagos – verurteilt oder mit Bußgeldern belegt wurden. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass die überwiegende Mehrheit der Parlamentarier als unbescholten gelten darf – über mehr als drei Viertel von ihnen wurden keine Skandale oder Strafen bekannt.

Rechtspopulisten fallen mit Verstößen auf

Einen relativ klaren Trend gibt es bei der Parteizugehörigkeit. Parlamentarier ohne Zugehörigkeit zu einer der Fraktionen fielen besonders oft mit Verstößen auf. Das kann auch daran liegen, dass Missetäter ihre bisherige Gruppe verlassen mussten. Auf Platz zwei der Abgeordneten, gegen die Vorwürfe laut wurden, rangieren die Politiker der rechtskonservativen EKR-Fraktion, gefolgt von der rechtspopulistischen I&D-Fraktion, der auch Abgeordnete der AfD aus Deutschland angehören – neben solchen der FPÖ aus Österreich und des Rassemblement National aus Frankreich.

Einige derjenigen, die aus rechtspopulistischer Sicht die EU-Hauptstadt Brüssel als Korruptionshochburg darstellen, tragen also womöglich selbst zu solchen Missständen bei. Nick Aiossa wiederum verfolgt die Brüsseler Szene seit zehn Jahren, erst als Mitarbeiter, heute als Chef von Transparency International EU. Nach seiner Erfahrung sind „Abgeordnete aus allen Staaten und allen Parteien in Korruption verwickelt“.

Die Zahlen, auf die sich das Rechercheprojekt stützt, können keine naturwissenschaftliche Genauigkeit beanspruchen. In manchen Ländern werden Verstöße bekannt, die in anderen Ländern nicht publik werden. Was ist ein Skandal und was nur ein Skandälchen und musste trotzdem mit aufgeführt werden? Wie scharf greifen Behörden durch – und wie aufmerksam sind jeweils die nationalen Medien? In Finnland können zum Beispiel Journalisten neu verhängte Strafen wegen Verkehrsdelikten – anders als in Deutschland – unkompliziert einsehen. Aus dem Land im hohen Norden ist deshalb der Fall der konservativen EU-Abgeordneten Sirpa Pietikäinen bekannt, die einmal wegen Alkohol am Steuer erwischt wurde und ein zweites Mal wegen überhöhter Geschwindigkeit.

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Wichtiger sind allemal Fälle mit politischem Bezug, Skandale um Korruption und Betrug. Der prominenteste jüngste Fall betraf eine Sozialdemokratin – und Griechin: Eva Kaili. Belgische Staatsanwälte ermitteln gegen sie und andere Beschuldigte wegen möglicher Bestechungszahlungen des Emirats Katar. Nachdem die heute 45 Jahre alte Politikerin im Dezember 2022 verhaftet wurde, machten die – von ihr bestrittenen – Vorwürfe als „Katargate“ Schlagzeilen. Bis April 2023 blieb sie in Untersuchungshaft. Mit ihr und Lagos übten so über ein Jahr lang gleich zwei griechische EU-Abgeordnete ihr Mandat in einer Gefängniszelle aus – fast zehn Prozent der insgesamt 21 griechischen Vertreter.

Der Skandal um „Katargate“ erschütterte das EU-Parlament

Beim Thema „Katargate“ machte auch der Name der Italienerin Lara Comi von der konservativen Partei Forza Italia die Runde – wenngleich in der Sache keine Ermittlungen gegen sie bekannt wurden. Im Oktober 2023 verurteilte ein Gericht in Mailand sie aber in einer anderen Sache zu einer Gefängnisstrafe. Sie soll Hunderttausende Euro an EU-Spesengeldern zweckentfremdet und an Bekannte verteilt haben. Bereits zuvor war bekannt geworden, dass sie – unter Bruch der Regeln des Europaparlaments – die eigene Mutter als Assistentin eingestellt hatte.

Der Europaabgeordnete Gunnar Beck auf der AfD-Europawahlversammlung in Magdeburg
Der Europaabgeordnete Gunnar Beck auf der AfD-Europawahlversammlung in Magdeburg
Quelle: Sebastian Willnow/picture alliance/dpa

Eine relativ aktuelle Gerichtsentscheidung erging gegen einen deutschen EU-Abgeordneten. Im November 2023 verurteilte das Amtsgericht Neuss den AfD-Abgeordneten Gunnar Beck zu einer Geldstrafe in Höhe von 6900 Euro. Er soll zu Unrecht einen Professorentitel verwendet haben. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig – aber nach einer von Beck erfolgreichen betriebenen Revision hat das Gericht mit der Entscheidung im November die Verhängung der Strafe bereits zum zweiten Mal bestätigt und nur die Höhe der Strafe etwas reduziert. Beck hat allerdings nach eigenen Angaben erneut Rechtsmittel eingelegt. Er ist kein Hinterbänkler. In der I&D-Fraktion amtiert er als einer der zwei Vize-Vorsitzenden.

Auch gegen den AfD-Abgeordneten Maximilian Krah gab es Vorwürfe – im Zusammenhang mit einem Auftrag für PR-Arbeiten für ihn, den die I&D-Fraktion im vergangenen Jahr vergeben wollte. Doch die Fraktion stoppte das Verfahren und suspendierte Krah im Februar 2023 als Mitglied, nachdem ein anonymer Brief mögliche Schummeleien erwähnte.

Auffällig war, dass drei kleine deutsche Firmen praktisch gleichlautende Angebote für PR-Arbeiten im Wert von mindestens 60.000 Euro eingereicht hatten – alle drei aus dem AfD-Umfeld und eine aus Krahs Heimatstadt Dresden. Ohne eine Rolle des Abgeordneten zu erwähnen, stufte das EU-Betrugsbekämpfungsamt Olaf in einem Schreiben im März 2023 den Fall als mögliche Straftat zu Lasten des EU-Haushalts ein und verwies ihn an die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO).

„Ein furchtbar peinlicher, schrecklicher Fehler“

Krah bestreitet eine Beteiligung. Sein Büroleiter Jörg Sobolewski bestätigte jetzt aber gegenüber WELT, dass er die betroffenen Unternehmen kennt: „Wir haben mit allen drei Firmen in der Vergangenheit zusammengearbeitet.“ Etwa die Berliner Agentur Polifakt, die nach eigenen Angaben „auf allen Ebenen“ für die AfD tätig ist und für Krah sogenannte „Dresdner Gespräche“ und eine Zeitung namens „Krah direkt“ organisiert hat.

Der EU-Abgeordnete Maximilian Krah (AfD) im September in Nordhausen in Thüringen
Der EU-Abgeordnete Maximilian Krah (AfD) im September in Nordhausen in Thüringen
Quelle: Getty Images/Craig Stennett

Ihr Geschäftsführer Josef Konrad räumt heute sogar ein, dass die drei Firmen während des Bewerbungsverfahrens miteinander Kontakt hatten. Er habe den anderen beiden Firmen auf deren Bitte hin seinen Bewerbungstext zugeschickt – und die hätten „ohne nachzudenken“ den gleichen Wortlaut eingereicht. „Ein furchtbar peinlicher, schrecklicher Fehler“ – so Konrad.

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Aber warum wollte er zwei konkurrierenden Firmen helfen? „Es ist völlig egal, wer welchen Auftrag bekommt“, versicherte er. Hinterher hätte man sich ohnehin gegenseitig geholfen.

Tatsächlich gibt es eine andere mögliche und weniger unschuldige Erklärung für die Copy-and-Paste-Bewerbungen: Bei einem Auftrag dieser Größenordnung waren nach den geltenden Regeln der I&D-Fraktion „mindestens drei gültige Angebote“ nötig, damit die Fraktion überhaupt über den Auftrag entscheiden konnte. Auch Polifakt hatte nur eine Chance, wenn wenigstens zwei andere Unternehmen sich bewarben.

Hat also doch Krah oder sein Büro die drei Firmen zusammengebracht? Nein, lässt er versichern – Polifakt sei einfach eine der wichtigsten PR-Agenturen im AfD-Umfeld und deshalb unter den anderen Firmen bekannt. „Selbstverständlich“ habe es keine „Organisation einer unzulässigen Absprache“ gegeben.

Trotz Vorwürfen wurde Krah AfD-Spitzenkandidat

Sicher ist, dass bei öffentlichen Aufträgen nach deutschem wie nach EU-Recht Absprachen zwischen Bewerbern untersagt sind. „Nach deutschem Recht gilt: Man darf sich bei einer Bewerbung für öffentliche Aufträge auf keinen Fall absprechen. Das verstößt gegen Vergaberecht, Kartellrecht und unter Umständen sogar gegen Strafrecht“, sagt der renommierte Vergaberechtler Meinrad Dreher von der Universität Mainz.

Dauerhaft geschadet hat die Sache dem AfD-Politiker trotzdem bisher nicht. Erst machte die AfD Krah im Juli zu ihrem Spitzenkandidaten für die kommende EU-Wahl, dann zog auch die I&D-Fraktion ihre Suspendierung wieder zurück.

Etwas älter ist ein ähnlicher Fall rund um den bulgarischen Sozialisten Sergei Stanishev. Als er im Jahr 2014 erstmals für das EU-Parlament antrat, vergab parallel dazu die Vielvölkerkammer unter ihrem damaligen deutschen Präsidenten Martin Schulz (SPD) einen PR-Auftrag, um in Bulgarien für die Wahlen zu werben. Die Empfängerin des 60.000 Euro schweren Vertrags war – ausgerechnet Stanishevs Frau. Nachdem sich die Christdemokraten im EU-Parlament darüber empörten, gab die Bulgarin den Auftrag zurück und überwies eine bereits erhaltene Anzahlung von 29.680 Euro zurück.

Auch Jörg Meuthen, früher AfD-Chef, inzwischen dort ausgetreten, aber noch immer im EU-Parlament, beschäftigt die Justiz. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt, wie sie WELT bestätigte, bis heute wegen des Verdachts der illegalen Annahme von Parteispenden. Es geht um mutmaßlich verschleierte Wahlkampfhilfen in Höhe von 90.000 Euro auf dem Umweg über eine Schweizer PR-Firma. Die Bundestagsverwaltung verhängte deswegen bereits eine Strafzahlung in Höhe von 270.000 Euro gegen die AfD.

Anders gelagert ist der Fall der CDU-Abgeordneten Karolin Braunsberger-Reinhold. Mitarbeiter hatten sie der sexuellen Belästigung bezichtigt. Obwohl die Christdemokratin von einem „Missverständnis“ sprach, machte ihre Partei einen klaren Schnitt. Weil Braunsberger-Reinhold die Vorwürfe nicht habe ausräumen können, stellte die CDU Sachsen-Anhalt sie nicht erneut für das EU-Parlament auf.

Ein überdimensionales Transparent wirbt vor dem EU-Parlamentsgebäude in Brüssel für die Europawahl im Juni 2024
Ein überdimensionales Transparent wirbt vor dem EU-Parlamentsgebäude in Brüssel für die Europawahl im Juni 2024
Quelle: Thierry Monasse/Getty Images

Auch an den sächsischen CDU-Mann Peter Jahr richteten sich Frage. Er ist im Nebenerwerb Landwirt und gab in seiner jüngsten Interessenerklärung jährliche Einkünfte von 20.000 Euro an, die er als Gesellschafter von drei Agrarfirmen erhalte. Nach seinen Angaben gegenüber WELT kassierte er allein im Jahr 2021 Agrarsubventionen in Höhe von 65.000 Euro. Im gleichen Jahr war er Verhandlungsführer des EU-Parlaments für die Reform der EU-Agrarpolitik – über die der Großteil der Subventionen für die Landwirte fließt.

Ein Landwirt verhandelt über Agrarsubventionen

Die SPD-Europaabgeordnete Noichl warf ihm darum Befangenheit vor. Der CSU-Mann selbst sah dagegen auf der Grundlage des Verhaltenskodex der Abgeordnetenkammer keinen Interessenkonflikt – und die SPD-Parlamentarierin blieb mit ihrer Kritik offenkundig isoliert.

In der Tat sagt der Verhaltenskodex des Parlaments bis heute, dass kein Interessenkonflikt bestehe, „wenn das Mitglied lediglich als Teil der allgemeinen Öffentlichkeit oder einer breiten Bevölkerungsschicht profitiert“. Offenbar gilt dies auch für Bauern.

Fragen gab es auch bei zwei anderen Abgeordneten – einer Liberalen aus Dänemark und einem Piraten und Mitglied der Grünen-Fraktion aus Tschechien. Beide durften an der Formulierung von Gesetzestexten mitwirken, die große Tech-Firmen betrafen – während die Abgeordneten selbst Aktienpakete von Amazon und Apple beziehungsweise IBM hielten. Aber auch hier nahmen die Abgeordnetenkollegen offenbar keinen Anstoß.

Das EU-Parlament hatte den eigenen Ehrenkodex nach dem „Katargate“-Skandal bei Themen wie möglichen Interessenkonflikten überarbeitet und teilweise verschärft – aber an zumindest einer Stelle sogar entschärft. Heute müssen Abgeordnete nur noch dann Nebeneinkünfte offenlegen, wenn diese pro Jahr insgesamt 5000 Euro betragen. Früher galt das nur bei gelegentlichen Nebenjobs.

Früher wie heute müssen Abgeordnete Nebentätigkeiten in einer Interessenerklärung offenlegen. Am Aushandeln der Reform des Kodex und der Geschäftsordnung, die dies verlangen, war als sogenannter Schattenberichterstatter maßgeblich der deutsche Abgeordnete Rainer Wieland (CDU) beteiligt. Er amtiert überdies als einer der 14 Vizepräsidenten der Volksvertretung. Zugleich scheint er selbst nicht vollständig jenseits von Fehl und Tadel.

Der Europaabgeordnete und Vizepräsident Rainer Wieland (CDU) im Mai 2022 im Parlament in Brüssel
Der Europaabgeordnete und Vizepräsident Rainer Wieland (CDU) im Mai 2022 im Parlament in Brüssel
Quelle: picture alliance / Geisler-Fotopress

Der Christdemokrat ist im Nebenberuf Anwalt und Mitinhaber einer Anwaltskanzlei in Stuttgart, die das „Europarecht“ als einen von Wielands Schwerpunkten nennt. Obwohl ihre Webseite ihn im Impressum seit Jahren auch als „geschäftsführenden Gesellschafter“ ausweist, hat Wieland diese Leitungstätigkeit nicht in seiner Interessenerklärung deklariert – obgleich dort die Nennung „jeglicher Mitgliedschaften in Leitungsorganen“ etwa von Firmen genannt werden muss. Nur an anderer Stelle in der Erklärung erwähnte Wieland die Firma, für mit der er aber „nur gelegentliche Einkünfte“ erziele.

Als WELT Wieland im Oktober mit dem offenkundigen Regelverstoß konfrontierte, sprach der Abgeordnete von einem Fehler auf der Webseite. „Ich bin nicht geschäftsführender Gesellschafter“, beteuerte er.

Doch auch im Januar 2024 führt ihn die Kanzlei unverändert als solchen auf ihrer Webseite auf. Die Anwaltsfirma bestätigt auf Anfrage, dass Wieland als namensgebender Partner „in Bezug auf Rechtsgeschäfte mit Dritten“ zur „Gesamtvertretung“ der Kanzlei gehört. „Diese Rechtslage wird auch auf unserer Homepage entsprechend dargelegt“, so Wielands Sozius Frank Theumer. „Im operativen Geschäft“ sei der EU-Abgeordnete aber „nicht tätig“.

Millionen Spesengelder seien abgezweigt worden

Eine Sprecherin des EU-Parlaments wollte sich zu solchen Einzelfällen nicht äußern. Neben Verhaltensregeln, die eher lax kontrolliert werden, bringt womöglich auch das üppige Spesenregime des Europaparlaments manche Abgeordnete in Versuchung. Angeführt von der ehemaligen Parteichefin Marine Le Pen stehen ab September 2024 mehrere ehemalige und noch amtierende EU-Abgeordnete des rechten französischen Rassemblement National in Paris vor Gericht. Sie sollen Spesengelder des Parlaments für die Finanzierung der damals Front National genannten Partei abgezweigt haben. Im Jahr 2018 bezifferte das EU-Parlament die Gesamthöhe auf 6,8 Millionen Euro.

Der TI-Experte Nick Aiossa spricht von einem „enormen Druck“, der auf den Volksvertretern laste, die lukrativen Vergütungen Gunsten der Parteien zu nutzen, die sie ins EU-Parlament entsendet haben.

Marine Le Pen, bis 2021 Chefin des französischen Rassemblement National, saß von 2004 bis 2017 im EU-Parlament
Marine Le Pen, bis 2021 Chefin des französischen Rassemblement National, saß von 2004 bis 2017 im EU-Parlament
Quelle: Getty Images

Bis zu 28.696 Euro darf jeder Abgeordnete zurzeit pro Monat an Mitarbeiter auszahlen lassen. Auch die Griechin Eva Kaili, die im Mittelpunkt des Katargate-Skandals steht, soll Teile dieser Gelder missbraucht haben. Mitarbeiter hätten aus ihren EU-finanzierten Gehältern Kickbacks an die Abgeordnete zurückgezahlt.

Eine der jüngsten Recherchen von WELT und „Follow the Money“ zeigte, dass zwischen 2019 und 2022 im Fall von 108 EU-Abgeordneten insgesamt mehr als zwei Millionen Euro zurückgezahlt werden mussten, die zu Unrecht an Mitarbeiter geflossen waren. Wer die betroffenen Abgeordneten sind und ob das Geld aus Absicht oder aus Versehen in die falschen Kanäle floss, bleibt jedoch meist im Verborgenen. Die Volksvertretung will sich auch hier zu Einzelfällen nicht äußern. Die Recherchen legen aber nahe, dass Abgeordnete ernstere Konsequenzen vermeiden können, wenn sie das Geld einfach stillschweigend zurückzahlen.

„Es besteht die ungesunde Neigung, diese Fälle nur als finanzielle administrative Unregelmäßigkeiten zu betrachten“, bestätigt auch Nick Aiossa von Transparency International. Er stört sich besonders an dem insgesamt über 40 Millionen Euro schweren Topf für die sogenannte allgemeine Kostenpauschale. Jeder Abgeordnete kassiert neben der Diät von heute 10.075 Euro jeden Monat 4950 Euro für allgemeine Bürospesen – von Büroklammern bis zur Miete eines Büros im Wahlkreis. Für die Verwendung der Gelder müssen die Empfänger keinerlei Belege vorweisen.

Bereits vor sieben Jahren zeigte eine Recherche verschiedener europäischer Medien, dass viele Abgeordnete überhaupt kein Wahlkreisbüro unterhalten – und das Geld trotzdem kassieren. Mehrere deutsche Parlamentarier nutzten eigene Immobilien für dieses Büro und zahlten sich teils selbst Miete. Das Regionalbüro von Manfred Weber (CSU) – Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion – befand sich in einem Anbau seines Privathauses in einem kleinen Dorf in der niederbayerischen Provinz. Nach den Enthüllungen verlegte er sein „Niederbayern-Büro“ in das etwas zentraler gelegene Straubing.

Deutsche EU-Abgeordnete von CSU bis Linken verteidigten die Zahlungen: Auch ihre Kollegen im Bundestag bekämen ja eine solche Bürokostenpauschale in Höhe von heute 5052 Euro. Doch der Vergleich hinkt. Denn Bundestagsabgeordnete müssen davon auch ihre Unterkunft am Parlamentssitz in Berlin finanzieren. Ihre EU-Kollegen bekommen für jeden Sitzungstag in Brüssel oder Straßburg 350 Euro als Tagegeld obendrauf. Die Grünen-Abgeordnete Reintke vertritt offen die Ansicht, dass auch diese Spesenregelung zu großzügig sei: „Wir als Grüne setzen uns für eine Reduktion dieser Sitzungsgelder ein“, schrieb sie bereits angesichts der im Jahr 2023 geltenden Tagegeldsumme. Damals waren es 338 Euro.

Diese Journalisten waren an den Recherchen beteiligt:

Ada Homolova (Follow the Money, Niederlande), Aino Vasankari (Iltalehti, Finnland), Anne Michel (Le Monde, Frankreich), Atanas Tchobanov (BIRD, Bulgarien) (IRPI, Italien), Bart de Koning (Follow the Money, Niederlande) (Beatrice Cambarau (IRPI, Italien), Biro Attila (Context, Rumänien), Diego Velazquez (Luxemburger Wort, Luxemburg), Emilia Morales (Publico, Spanien), Flora Mory (Standard, Österreich), Greete Palgi (Delfi, Estland), Hans-Martin Tillack (WELT, Deutschland), Ivo Neto (Publico, Portugal), Janine Louloudi (Reporters United, Griechenland), Jarno Liski (Iltalehti, Finnland), José Bautista (Publico, Spanien), Konstantina Maltepioti (Reporters United, Griechenland), Lars Bové (De Tijd, Belgien), Lise Witteman (Follow the Money, Niederlande) Maria Delaney (Noteworthy, Irland), Maria Pankowska, (OKO.press, Polen), Mašenjka Bačić (Ostro, Kroatien), Nacho Calle (Publico, Spanien), Mihaela Tănase (Context, Rumänien), Peter Teffer (Follow the Money, Niederlande), Piret Reijan (Deli, Estland), Raffaele Angius (IRPI, Italien), Sergio Sangiao (Publico, Spanien), Simone Olivelli (IRPI, Italien), Staffan Dahllöf (DEO.dk, Dänemark/Schweden), Steven Vanden Bussche (Apache, Belgien) Thomas Klein (Luxemburger Wort, Luxemburg), Tomas Madlenak (ICJK, Slowakei), Vincent Nouvet (Le Monde, Frankreich)

Ergänzung vom 5.2.2024: In einer früheren Fassung hieß es irrtümlich, Marine Le Pen sei bis heute Chefin der Partei Rassemblement National. Wir haben den Fehler korrigiert.

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