Wann es dem NDR dämmerte, dass der Putin-Biograf Hubert Seipel vielleicht nicht der richtige Mann ist, um die Politik Russlands unabhängig zu erklären, das könne heute kein Mitarbeiter des Senders exakt datieren. Sagt Steffen Klusmann, der ehemalige „Spiegel“-Chefredakteur, der einen Untersuchungsbericht für den NDR geschrieben hat. Seine Aufgabe: Herauszufinden, ob der NDR sich von Seipel, der hohe Geldzahlungen von einem russischen Oligarchen für zwei Buchprojekte bekommen hat, täuschen ließ. Hätte jemand im Sender oder von der Produktionsfirma Cinecentrum Verdacht schöpfen können, dass Seipels Interviews und Dokumentationen nicht aus einer inhaltlich und finanziell unabhängigen Position entstanden sind?
Das Ergebnis der Untersuchung (hier zum pdf) ist letztlich etwas uneindeutig. Es gibt zwei Ebenen, das journalistisch-handwerkliche Urteil – und die formaljuristische Bewertung. Zunächst zum journalistischen Urteil. „Der NDR muss sich vorwerfen lassen, dass er sich von exklusiven Geschichten zu sehr hat mitreißen lassen“, sagte Klusmann bei der Vorstellung der Ergebnisse. Der NDR hat als Auftraggeber eine ganze Reihe von Interviews und Filmen ab 2009 beauftragt, was auch zu Spannungen mit dem WDR geführt hat, bei dem klassisch die Auslandskorrespondenten in Russland angedockt sind.
Weil Seipel sich über die Jahre eine große Nähe zu Wladimir Putin aufgebaut hat, habe der NDR den Autor „ganz schön hofiert“, so Klusmann. Sowohl der NDR wie auch andere Medien hätten die Arbeit von Hubert Seipel zu wenig kritisch hinterfragt, kritisierte Klusmann. Im Bericht wird beispielsweise auf den ARD-Programmbeirat verwiesen, der Mitte 2014 vermerkt habe, das Erste „berichte zu voreingenommen, zu undifferenziert und zu Russland-kritisch“. Das Gremium habe sogar infrage gestellt, ob die Krim von Russland überhaupt annektiert worden sei.
Für den NDR-Intendanten Joachim Knuth, der die Untersuchung beauftragt hat, ist Seipel ein Experte in der „Herstellung von Nähe“. Nicht nur der NDR, auch andere Medien und Jurys von Medienpreisen (Seipel hat sowohl den Grimme-Preis wie den Deutschen Fernsehpreis gewonnen), hätten ihm zu wenig „notwendige Skepsis“ entgegengebracht. Im Bericht wird Seipel als „Diva“ charakterisiert, schlau und eigenwillig, mit dem sich Leute aus dem Medienbetrieb gern geschmückt hätten.
Die Russland-Expertin Gesine Dornblüth, die ein zusätzliches Gutachten verfasst hat, stellt im Kontext der damaligen Zeit (also nicht vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges) fest, bei den NDR-Produktionen handele es sich um „von Propaganda durchzogene Filme“. Seipel habe in seinen Filmen „den Kern von Putins Propaganda“ transportiert. Man habe Seipel als pro-russische Stimme beispielsweise in Talksendungen eingeladen, dabei aber eine falsche Ausgewogenheit hergestellt, habe der Autor doch letztlich nur die Position Putins übernommen.
Keine Klage gegen Seipel
Gleichwohl entlastet der Bericht, an dem auch NDR-Justiziar Michael Kühn gearbeitet hat, die Mitarbeiter des Senders. Hier kommt also die formale Bewertung zum Tragen. So lautet der erste Satz des „Klusmann-Berichts“, wie ihn der NDR getauft hat: „Die Aufklärung hat keinerlei Hinweise zutage gefördert, dass jemand beim NDR, bei der Produktionstochter Cinecentrum oder bei anderen an den Seipel-Produktionen beteiligten Sendeanstalten von den russischen Zahlungen an Hubert Seipel wusste, diese verheimlichte oder gar selbst Geld angenommen hat.“
Was bedeutet, dass der NDR keine Klagen gegen die Produktionsfirma oder gegen Seipel selbst anstrengen wird. Diese seien wenig aussichtsreich. Die Firma, eine indirekte Tochter des NDR, sei von den Zahlungen an Seipel nicht von diesem in Kenntnis gesetzt worden. Ein Verdacht, dass Seipel für seine Arbeit aus einer weiteren Quelle bezahlt worden sei, das zumindest hätten Gespräche mit namentlich nicht genannten Mitarbeitern ergeben, sei nicht geschöpft worden. Und ein direkter Einfluss des Kreml auf die Inhalte der Filme sei ebenfalls nicht nachzuweisen. Laut Seipel, der schriftlich auf Fragen geantwortet hat, habe er niemals Material zur Abnahme bei seinem Co-Finanzier vorgelegt.
Ein „Versagen“ wollte NDR-Intendant Knuth folglich auch nicht aufseiten seines Senders erkennen. Seine Einschätzung, die Bilder und Berichte des Hubert Seipel wären „zu schön, um wahr zu sein“ gewesen, erinnert an den Relotius-Fall des „Spiegel“ – den Steffen Klusmann als damals neuer Chefredakteur aufarbeiten lassen musste. Mit dieser Begründung – „zu schön, um wahr zu sein“ – wurde auch bei Relotius erklärt, warum Beiträge nahezu unkritisch durchgewinkt wurden.
Und dennoch gibt es ja einen Unterschied – Seipel konnten keine expliziten Fehler nachgewiesen werden, so wie Relotius, der bewusst gefälscht hatte und demzufolge auch gar keine Bilder anbieten konnte. Seipel wird keine Fälschung vorgeworfen, sondern beispielsweise das Weglassen von Fakten, die zu einem umfassenden und unabhängigen Verständnis des Systems Putin nötig gewesen wären. Das Geld von Mordaschow, glaubt Klusmann, sei vermutlich gar nicht notwendig gewesen, aus Seipel einen Putin-Freund zu machen.
Der Relotius-Vergleich ist also nur insofern passend, als es hinreichend viele Mitarbeiter des NDR gegeben haben muss, bei denen das von Putin gezeichnete Bild nicht mit dem eigenen Weltbild kollidierte, auch nicht nach der Annexion der Krim 2014. So wie Relotius Reportagen schrieb, die die Sicht auf die Welt von „Spiegel“-Redakteuren zu bestätigen schienen, weil sie für sie plausibel erschienen. Dazu kommt bei Seipel, ganz anders als bei Relotius, die Faszination der Bilder eines vermeintlich nahbaren russischen Präsidenten – Aussage und Bilder passten perfekt zusammen.
Wie geht es jetzt weiter? Steffen Klusmann empfiehlt beispielsweise zur „internen Hygiene“ die Einrichtung einer Clearing-Stelle im NDR, die Hinweise auf Auffälligkeiten in der Berichterstattung prüft. Und Intendant Knuth lässt die Vorschläge prüfen. Ansonsten, sagte Justiziar Michael Kühn, sei die Untersuchung damit formal abgeschlossen. Ob Seipels Filme wieder in der Mediathek eingestellt werden, möglicherweise mit einem Hinweis auf den Hintergrund, sei offen. Seipel selbst hatte sich kurz vor der Präsentation des Berichts in der „Zeit“ und in der „Weltwoche“ geäußert – das Geld von Mordaschow sei komplett in die Recherche geflossen, er habe sich nichts vorzuwerfen.