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Kultur Alfred Grosser †

Das lange, hyperaktive Intellektuellenleben eines Brückenbauers

14.10.2018, Hessen, Frankfurt/Main: Alfred Grosser, deutsch-französischer Publizist und Friedenspreisträger 1975, nimmt an der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche teil. Foto: Arne Dedert/dpa 14.10.2018, Hessen, Frankfurt/Main: Alfred Grosser, deutsch-französischer Publizist und Friedenspreisträger 1975, nimmt an der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche teil. Foto: Arne Dedert/dpa
14.10.2018, Hessen, Frankfurt/Main: Alfred Grosser, deutsch-französischer Publizist und Friedenspreisträger 1975, nimmt an der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhand...els in der Frankfurter Paulskirche teil. Foto: Arne Dedert/dpa
Quelle: picture alliance/dpa
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Alfred Grosser war einer, der den Deutschen Frankreich und den Franzosen Deutschland beibrachte. Der Publizist und Politologe hatte jüdische Wurzeln. Überschattet wird seine Versöhnungsleistung durch seine Israelkritik. Ein Nachruf.

Er war ein „echter Franzose“, kein Deutscher mit französischem Pass, das hat Alfred Grosser gern und mit dem ihm typischen Augenzwinkern immer wieder betont. Als Jude geboren, konvertierte er zum Katholizismus und endete als säkularer Humanist. Sein Leben lang war er um die deutsch-französischen Beziehungen bemüht, wobei er das Wort „Versöhnung“ ausdrücklich mied. „Wie anders sind die Deutschen?“, fragte er noch im hohen Alter und schob gleich das nächste Buch hinterher: „Wie anders ist Frankreich?“

Fragen, die ihn bis zum Schluss beschäftigten, auch wenn er am Ende gestand, dass die Beziehungen zwischen Paris und Berlin weltpolitisch keine zentrale Rolle mehr spielten und andere Probleme wichtiger geworden seien. Im Verlauf seines langen Lebens hatte die Geopolitik ihr Zentrum verschoben, nach Asien, nach China, in die USA.

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Alfred Grosser, Publizist, Politikwissenschaftler, Germanist und unermüdlicher Grenzgänger zwischen beiden Kulturen, ist am 7. Februar in Paris im Alter von 99 Jahren gestorben, „auf den Tag genau 90 Jahre nach dem Tod seines Vaters“, wie sein Sohn, der Historiker Pierre Grosser, gegenüber der Zeitung „Le Monde“ bestätigte. Obwohl die Grossers Deutschland 1933 rechtzeitig verlassen und in Frankreich eine neue Heimat gefunden hatten, schrieben sich Verfolgung und Holocaust schmerzhaft in die Familiengeschichte ein:

Alfreds Vater Paul Grosser, Professor für Kinderheilkunde in Frankfurt am Main, war 1933 mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Frankreich geflohen und drei Monate später in Saint-Germain-en-Laye gestorben, einem Vorort im Westen von Paris, wo die Familie Zuflucht gefunden hatte. Grossers ältere Schwester Margarethe kam später bei einem Fahrradunfall auf der Flucht vor deutschen Soldaten ums Leben.

Grosser hielt nichts von Kollektivschuld

Kollektivschuld lehnte Grosser ab, „egal wie monströs das Verbrechen und die Zahl der Kriminellen war“, schrieb er in seinen Memoiren „Ein Leben als Franzose“ („Une vie de Français“). Diese Einsicht kam ihm bereits am Tag der Befreiung Frankreichs. „Am Morgen war ich sicher, endgültig sicher, dass der Hass auf ein Kollektiv nicht die angemessene Antwort auf einen kollektiven Hass sein konnte“, schreibt er.

Das Resümee seines langen, hyperaktiven Intellektuellenlebens fällt rechts und links des Rheins anders aus. Als einflussreicher Professor der Eliteschule „Sciences Po“, die längst ihren Alfred-Grosser-Lehrstuhl hat, mit seinen über 40 Büchern, aber auch dank seiner unermüdlichen Einmischung in zeitgeschichtliche Debatten hat Grosser in Frankreich als Brückenbauer agiert.

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Generationen von Germanisten, Historikern, Politologen und Journalisten habe er geprägt, schrieb die Tageszeitung „Le Monde“ in ihrem Nachruf. Sein Blick auf Deutschland war dabei stets wohlwollend, aber kritisch. „Wenn ich vor einem deutschen Publikum spreche, mache ich mir einen Spaß daraus, das anzusprechen, was schlecht läuft. Umgekehrt, wenn ich von Deutschland in Frankreich spreche, unterschlage ich diese negativen Aspekte ein wenig und versuche mit großem Vergnügen antideutsche Vorurteile und den unglaublichen französischen Hang zur Selbstgefälligkeit zu bekämpfen“, sagte Grosser.

1975 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sein Verdienst ist es, den französischen Nachbarn eine Gesellschaft näher gebracht zu haben, der man sich nach dem Krieg alles andere als verwandt fühlte. Grosser gilt als Wegbereiter des Elysée-Vertrages, den beide Staaten 1963 unterzeichneten. Als Kriegskind, das mit acht Jahren die Heimat verlassen musste, hatte er das emotionale wie das politische Ausmaß des Vertrags verstanden, dessen Dialektik er später so beschrieb: „Frankreich stieg von der Souveränität hinab zu einer geteilten Überstaatlichkeit, während die Bundesrepublik sich von fehlender Souveränität zu dieser Überstaatlichkeit emporbewegte.“

Als Israelkritiker einseitig

In Deutschland wurde seine Versöhnungsleistung in den letzten Jahrzehnten von Antisemitismusvorwürfen überschattet, seit Grosser 2009 mit seinem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem“ scharf mit Israel ins Gericht ging, was er als Plädoyer für eine universalistische Ethik verstand. Als er ein Jahr später in der Paulskirche in seiner Geburtsstadt Frankfurt die Rede der Gedenkfeier der Pogromnacht des 9. November hielt, löste das in der jüdischen Gemeinde Deutschlands Entrüstung aus. Grossers Israelkritik sei „obsessiv, einseitig und sehr einäugig“, sagte Salomon Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

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Dass er in Deutschland als Antisemit eingestuft wurde, habe ihn komplett kaltgelassen, versicherte Grosser in einem Interview. Er habe sich doch nur der These von Bundespräsident Horst Köhler angeschlossen, „dass uns das ‚Erbe‘ Hitlers dazu verpflichtet, überall dort einzugreifen, wo Menschen verfolgt oder missachtet werden“.

Seine Identität definierte er einmal als die Summe seiner Zugehörigkeiten und als „hoffentlich“ etwas, so schrieb er, das sie „synthetisiert und dominiert“. Es war der Humanismus, die Verantwortung, die aus der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts erwuchs.

Grosser bezeichnete „das Verständnis für das Leiden anderer“ als seinen fundamentalen Wert. Seine jüdische Identität spielte keine große Rolle, auch wenn er betonte, dass alle vier Großeltern und beide Eltern jüdisch waren. Wenn er ausnahmsweise darüber sprach, dann um zu betonen, dass er nicht zu jener Kategorie Juden gehörte, die den Selbsthass pflegten. „Ich mag mich sehr“, gab er in solchen Situationen zu Protokoll.

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